Eine Form des Sozialismus
Der Anarchismus entstand im 19. Jahrhundert aus den sozialistischen Debatten über die Überwindung des Kapitalismus, die innerhalb der Arbeiter*innenklasse geführt wurden. Die Anarchist*innen liessen sich von verschiedenen Kampferfahrungen inspirieren und bauten diese in ihr Konzept eines freiheitlichen Sozialismus ein. Der Anarchismus entsprang direkt aus den Kämpfen der Arbeiter*innen und Marginalisierten während der industriellen Revolution, dem Aufstieg der Nationalstaaten, des Imperialismus und den grossen Migrationsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Die Internationale
Die sozialistischen und freiheitlichen Ideen, aus denen der Anarchismus entstand, existierten bereits vor dem 19. Jahrhundert. Eine konkrete Ausformulierung anarchistischer Ideen und eines dazugehörenden Programms entstand rund um den sogenannten kollektivistischen Flügel innerhalb der Ersten Internationalen. Die von Michail Bakunin gegründete Allianz der sozialistischen Demokratie gilt als die erste spezifisch anarchistische Organisation. Danach verbreitete sich der Anarchismus durch die Migrationsbewegungen seitens vieler Arbeiter*innen schnell in der ganzen Welt.
Nicht nur Antistaatlichkeit
Der Anarchismus lässt sich nicht auf Antistaatlichkeit reduzieren. Historische wie auch heutige Anarchist*innen formulieren eine Kritik an mehreren Herrschaftsformen: der ökonomischen Herrschaft, der nationalistischen, imperialistischen und politisch-institutionellen Herrschaft sowie der ideologisch-kulturellen und religiösen Herrschaft. Aus dieser Perspektive heraus streben wir Anarchist*innen danach, verschiedene Formen der Unterdrückung zu bekämpfen und zu überwinden – so positioniert sich der Anarchismus entschlossen gegen ökonomische Ausbeutung, Rassismus, Sexismus, Trans- und Homofeindlichkeit und alles, was die freie Entfaltung der Menschen behindert.
Kollektive Selbstverwaltung
Die Mehrheit der Anarchist*innen wandte sich gegen den Individualismus, ebenso jedoch gegen alle Formen von Herrschaft, die die persönliche und kollektive Entwicklung des Menschen hindern. Für uns Anarchist*innen lassen sich soziale Probleme weder individuell noch durch Worte lösen, sondern durch den Aufbau von Strukturen der Volksmacht, die ermöglichen, gemeinsam gegen bestehende Herrschaftsstrukturen zu kämpfen und diese zu überwinden. Deswegen gründeten Anarchist*innen Gewerkschaften, selbstverwaltete Schulen, territoriale Verteidigungsorganisationen, politische Organisationen, Zeitungen, Nachbar*innenorganisationen etc.
Eine neue Gesellschaft
Wir sind davon überzeugt, dass der Staat und der Kapitalismus nicht von selbst verschwinden werden. Allerdings werden wir den Kommunismus nicht durch autoritäre Übergangsphasen erreichen können, denn keine Diktatur kann eine emanzipierte Gesellschaft hervorbringen. Die Organisationen der Unterdrückten und Ausgebeuteten müssen sich durch Kämpfe nach und nach die Kompetenzen und Privilegien der Herrschenden aneignen. Dies mit dem Ziel, Macht direkt und gleichberechtigt zu verteilen und die Gesellschaft in Selbstverwaltung zu organisieren. So soll die Gesellschaft föderalistisch – von unten nach oben – neu organisiert werden. Anstatt durch repräsentative Strukturen, die den Menschen die Entscheidungsgewalt entziehen, sollen die Menschen im Alltag und in Kämpfen lernen, wie Selbstverwaltung funktioniert.
Revolution
Wir als Anarchist*innen glauben nicht, dass rein durch den Aufbau der Organisationen der unterdrückten Klassen die herrschenden Klassen entmachtet werden können. Diese werden uns mit jeder erdenklichen Gewalt an unserem libertär-sozialistischen Projekt hindern wollen. Deshalb müssen wir die Volksorganisationen auf eine Konfrontation mit den Herrschenden vorbereiten, diese stärken und international vernetzen, damit sie genug Kraft haben, um in einem revolutionären Prozess die herrschenden Sturkturen zu zerschlagen. Dafür müssen wir Anarchist*innen die Organisierung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen vorantreiben – wirtschaftlich, sozial, kulturell usw.
Keine Utopie
Anarchismus ist nicht nur eine Utopie, sondern hat in der Geschichte zahlreiche Rechte erkämpft und Organisationsformen der Arbeiter*innen und der Unterdrückten stark mitgeprägt. Anarchist*innen beteiligten sich an vielen Kämpfen – von frühen geschlechterpolitischen und antirassistischen Bewegungen bis hin zu heutigen Kämpfen um Wohnraum oder Landrechte. Zudem nahm der Anarchismus eine zentrale Rolle in der Entwicklung und Verbreitung des Syndikalismus ein. Ebenfalls war er eine treibende Kraft in einigen sozialen Revolutionen, wie die Revolution in der Mandschurei oder der spanischen Revolution und hat auch zu anderen sozialistischen Revolutionen wie der russischen und der kubanischen massgeblich beigetragen.
Einklang von Mitteln und Zielen
Um die Zukunft zu gestalten, müssen sich Anarchist*innen schon heute organisieren. Für eine libertäre Gesellschaft müssen auch die Methoden zur Erkämpfung dieses Ziels freiheitlich und und befreiend sein. Somit müssen unsere Kämpfe so gestaltet werden, dass wir durch unser Handeln nicht nur die Welt verändern, sondern dabei auch uns selbst. Selbstverwaltete, demokratische Strukturen müssen im Alltag getestet und den Bedingungen angepasst werden. Nur wenn Selbstverwaltung und Demokratie in den Volksorganisationen für die Unterdrückten und Ausgebeuteten im Alltag erlebbar gestaltet wird, können sie sich selbst ermächtigen und befreien. Der libertäre Sozialismus muss jeden Tag weiter erlernt werden.